Wir trauern um Erna de Vries

Trauer um Erna de Vries

Das Foto zeigt Erna de Vries bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt im Februar 2020 in Emlichheim, bei dem sie von ihren Töchtern Lea Mor und Ruth de Vries begleitet wurde.

Wir trauern um Erna de Vries, die am 24. Oktober, drei Tage nach ihrem 98. Geburtstag, in ihrem Haus in Lathen gestorben ist. Wir, das sind – mit allen, die sich in Schulen, Bildungshäusern und Gedenkstätten, bei Pax Christi und im Kloster Esterwegen, für eine lebendige Erinnerungskultur einsetzen – auch Hannah und Jonathan. Wir sind zwei junge Menschen, die Erna de Vries kennenlernen durften, als sie vor einigen Jahren in unserer Schule von ihrer Familiengeschichte und den antisemitischen Anfeindungen erzählt hat, die sie als junger Mensch in Kaiserslautern erleben musste. Erna de Vries war 19 Jahre alt, als ihre Mutter 1943 deportiert wurde. Um sie nicht alleine zulassen, begleitete Erna sie nach Auschwitz. Ernas Mutter wurde dort ermordet. Sie selbst wurde nach Ravensbrück verschleppt und überlebte. Indem sie uns davon erzählte, hat sie den Auftrag erfüllt, den sie von ihrer Mutter auf der Lagerstraße in Auschwitz erhalten hatte: „Du wirst überleben! Und dann wirst du erzählen, was man mit uns gemacht hat!" Diesen Auftrag ihrer Mutter hat Erna de Vries unzählige Male in Schulen, Bildungshäusern und Gedenkstätten erfüllt – nicht als „Rache, Vergeltung und Abrechnung mit der Vergangenheit“, wie sie immer wieder betonte, sondern als „Mahnung und Hoffnung auf eine friedliche Zukunft“. Und dann erzählte Erna etwas, worüber sie lange nicht sprechen konnte. Als sie im Todesbrock 25 in Auschwitz die Vergasung erwartete – ihren eigenen Tod, hat sie gebetet: „Lieber Gott, ich möchte leben, aber wie Du willst.“ Dieses Gottvertrauen hat sie getröstet. Mit diesem Gottvertrauen hat sie gegen das Vergessen gekämpft und in diesem Gottvertrauen ist sie jetzt auch in den Armen ihrer drei Kinder in Lathen gestorben. Auf die Frage, was sie von uns, den Menschen, die ihre Geschichte gehört haben, erwartet, hat sie geantwortet: „Seid immer menschlich, auch – und gerade – zu denen, die anders sind als ihr.“ Erna de Vries kann ihre Geschichte jetzt nicht mehr erzählen. Aber alle, die sie gehört haben, sind zu Zeugen ihrer Geschichte geworden. Und jetzt haben wir den Auftrag, gegen das Vergessen, gegen Antisemitismus und jede Form der Unmenschlichkeit aufzustehen – in dankbarer Erinnerung an Erna de Vries. Unsere Gedanken sind heute aber ganz besonders bei ihrer Familie, die sie vor allem als geliebte Mutter, Großmutter und Urgroßmutter vermisst.

Hannah und Jonathan Strodt


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